Dienstag, 2. Oktober 2012

Ein Weltbild der Verbundenheit

Schamanische Wurzeln in Europa

Schamanismus wurde in den letzten Jahren immer populärer und trotz (oder gerade wegen?) dieser Präsenz in der Öffentlichkeit, scheinen viele Menschen schamanische Arbeit noch immer gleichzusetzen mit Indianern, oder zumindest Federschmuck, ums Feuer tanzenden Ekstatikern und schlimmstenfalls rituellem Hokuspokus. Sind die einen „echte Schamanen“ und tragen Zeremoniengewänder, Federschmuck und Wolfsfelle? Sind die anderen hingegen „nur“ spirituelle Sucher oder gar „Möchtegern-Heiler“? 

Schamanismus fasziniert uns, das ihm zugrundeliegende Weltbild der Verbundenheit weckt Sehnsüchte nach authentischer Erfahrung in uns, scheint nah und doch so fern zu sein. So wenden wir unseren Blick häufig den indigenen Völkern anderer Kontinente zu und vergessen oder übersehen dabei, dass es schamanische Techniken auch in unserem heutigen Europa gegeben hat. Zeugnis legen u.a. die Höhlenmalereien von Lascaux oder Trois-Frères in Frankreich ab, die auf 20.000 v. Chr. datiert wurden. Diese Bilder zeigen tierisch-menschliche Halbwesen, Ekstase, visionären Flug und schamanische Gestaltwandlung. Auch die finnischen Samen, die Inuit, die germanischen Walas bzw. Völvas oder die Druiden aus dem keltischen Raum agierten schamanisch und manche Geschichten um den germanischen Gott Odin beschreiben schamanische Initiationen. Recherchieren wir innerhalb der europäischen Kulturen, finden wir also eine Fülle von Material, das auf schamanische Praktiken hinweist.
Doch während in indigenen Kulturen auch heutzutage der Schamane als Begriff und Berufsbezeichnung geläufig ist, haben wir in Europa keine ununterbrochene Tradition dieses Zugangs zur Anderswelt, der Welt der Tier-, Pflanzen- und Schutzgeister, zu denen der Schamane Kontakte knüpft. Es gibt aber, gerade in den letzten Jahren, eine Vielzahl von Schamanisch Praktizierenden. Der Unterschied der beiden Begriffe liegt darin, dass Schamanen in einer schamanischen Kultur aufwachsen und von dieser Gemeinschaft zum Schamanen ernannt werden. Sie entscheiden sich nicht etwa selbst dazu, sondern werden aufgrund verwandtschaftlicher Beziehungen initiiert oder größtenteils von der Anderswelt dazu berufen, was oft mit einer schwerwiegenden Krankheit einhergeht. Dieser Ruf wird sowohl von der Gemeinschaft, als auch vom zukünftigen Schamanen erkannt und die meist langjährige Lehre bei einem erfahrenen Ältesten angetreten. Schamanisch Praktizierende hingegen nennt man jene Menschen in unserer westlichen Kultur, welche von den Schamanen der Naturvölker lernen. Hierin liegt die Schwierigkeit, denn in den meisten europäischen Ländern sind die Naturvölker und schamanischen Gemeinschaften schon vor sehr langer Zeit den religiösen oder politischen Konflikten zum Opfer gefallen. Bei welcher/m Stammesältesten unserer Kultur kann man also lernen, wenn es hier keine indigenen Stämme mehr gibt?
Eine von kulturellen Einflüssen relativ losgelöste Möglichkeit bietet die Foundation for Shamanic Studies (FSS). Michael Harner (Autor des Buches „Der Weg des Schamanen“ und Gründer der FSS) fand weltweit bei allen Völkern die gleichen schamanischen Basistechniken und fasste diese in einer verständlichen und anwendbaren Form unter dem Begriff „Kern- bzw. Core- Schamanismus“ zusammen. Er blieb bei den wichtigsten schamanischen Praktiken (von der Basis der schamanischen Reise ausgehend: Extraktion, Divination, Begleitung von Sterbenden, Hilfe für noch erdgebundene Seelen, Lösung von Besetzungen). Die Psychologin Sandra Ingerman, Schülerin von Michael Harner und später selbst Lehrerin der FSS, fügte diesem Basiswissen das alte Ritual der Seelenteilrückholung hinzu, welches ihr während einer schamanischen Reise von ihren Verbündeten/Spirits gezeigt wurde.
 „Schamanisches Reisen“ ist sowohl eine der Kern-Techniken, als auch ein Begriff für die Veränderung des Bewusstseins. Im Unterschied zu geführten Meditationen verselbstständigen sich hier die Bilder und Handlungen, der schamanisch Reisende ist aktiv und (re-)agiert, wenn er sich in der Anderswelt befindet. Aus diesem Grunde wird zu Beginn die Krafttier-Suche durchgeführt, um das Krafttier kennenzulernen, welches fortan als Führer vorangeht und die Reisen begleitet.  Alle Völker kennen Rituale, die in ein erweitertes Bewusstsein führen, um den Zugang zur Anderswelt sowie eine Interaktion mit dieser zu erleichtern. In der klassischen schamanischen Reise nach dem Core-Schamanismus verändert der monotone Rassel- oder Trommelschlag die Gehirnfrequenz und macht so den Eintritt in eine Trance möglich, trägt gleichzeitig die Absicht und den Auftrag des schamanisch Praktizierenden und geleitet diesen sicher aus seinem Körper hinaus und wieder zurück, wobei jede Reise gemeinsam mit den Spirits (Krafttier, Geistwesen, Lehrer u.a.) geschieht. Mithilfe der heute in großer Vielzahl erhältlichen Trommel-CDs können wir allein reisen, wir können mit anderen gemeinsam in der Gruppe Reisen und auch lernen Reisen für einen anderen Menschen zu unternehmen.
Schamanen nutzen seit jeher das Wissen, das ihnen in der Anderswelt vermittelt wird, nicht „nur“ um ihrer Gemeinschaft als Heiler zu dienen, sondern auch, um ihre Fähigkeiten als Seelsorger, Psychologen, Mediziner, Pflanzenkundige, Krieger, Priester, Orakel, Sänger, Geschichtenerzähler und Schauspieler (in einem rituellen Kontext) zu entwickeln. Schamanismus durchdringt den Alltag und das Denken mit einem Weltbild der inneren Verbundenheit und der Beseeltheit aller Wesen (wozu auch die scheinbar leblosen Steine zählen), das der Verstand nahezu nicht fassen kann. So wird oft vom „Weg des Herzens“ oder der Seele gesprochen. Ein Weg der Vermittlung zwischen Anderswelt und Alltagswelt, der das Wohl der eigenen Gemeinschaft als auch das Wohl aller Wesen im Sinne hat.
Schamanische Basistechniken, wie wir sie im Core-Schamanismus erlernen können, helfen uns den Zutritt in diese für uns Menschen so wichtige, vor Wissen und Weisheit schimmernde Anderswelt zu erlangen, erste Schritte zu machen und bei jeder Reise mehr zu erfahren. Mitunter bekommen wir dort sogar einen Einblick oder die Möglichkeit zur Lehre bei jenen Ahnen der Kultur, in die wir aus gutem Grund in diesem Leben hineingeboren wurden und deren Teil wir heute sind. Viele indigene Älteste sind darüber besorgt, wie wenig Verbindung zwischen uns und unseren Ahnen besteht und wie viel Weises  und Kraftvolles dadurch verschüttet wurde. Dies verstärkt das Gefühl keine Wurzeln zu haben, etwas suchen zu müssen und das Gefühl von anderen getrennt zu sein. Womöglich entsteht sogar die Vorstellung von Gott oder dem Göttlichen getrennt zu sein. Auch die 13 indigenen Großmütter, die sich aufgrund einer Vision zusammengeschlossen haben und gemeinsam oder in Kleingruppen die Welt bereisen, weisen darauf hin: „Auch hier nehmen gerade weise Frauen teil! IHR seid die weisen Großmütter vor Ort!“ Sie ermutigen die Teilnehmerinnen, an die eigene Ihnen innewohnende Heilkraft und Weisheit zu glauben und diese zu leben. Schamanismus ist so Erinnerung und Verbindung zu unseren eigenen Wurzeln. Eine Verbindung, die einerseits den Schamanisch Praktizierenden heilt und ihm andererseits ermöglicht, anderen Heilung zu schenken.
Dies soll nicht davon abhalten, Reisen in ferne Länder zu unternehmen, die einen Einblick in indigenes Stammesleben, Riten und Zeremonien geben oder Kurse bei einem Schamanen zu belegen. Für Schamanisch Praktizierende ist es darüber hinaus jedoch wichtig, einen authentischen Weg für sich selbst zu finden, der in unserer Kultur und unserem Alltag Wurzeln schlagen kann. Der Schlüssel liegt in einem wachen Bewusstsein – der Kunst, von dieser Alltagswelt in die Anderswelt und wieder zurück zu reisen und für sich selbst oder einen Hilfesuchenden wertvolle Hinweise und Praktiken zu erhalten und dabei in keiner der beiden Welten verloren zu gehen. Weder im alltäglichen Trott des Lebens, noch im scheinbar magischen, spannenden oder besonderen Erleben der Anderen Welt. Der peruanische Schamane Don Alberto sagt lachend: „Glaubt ihr wirklich, einer unserer Ältesten würde seine Mesa benötigen um zu wirken?! Warum also halten hier (in der westlichen Welt) so viele daran fest?“ Was er damit sagen möchte, ist, dass uns die archetypischen Kraftgegenstände und Symbole der amerikanischen oder australischen Ureinwohner stets ein Stück fremd bleiben, da sie nicht unserer natürlichen Umgebung entstammen und sie somit nicht 1:1 auf unser Leben übertragbar sind. Wir benötigen eigene Symbole, eine eigene Sprache, um die Erfahrungen der Anderswelt in Worte zu kleiden und uns in ihr zurechtzufinden. Wir sind aus einem – wenn uns auch meist unbekannten – Grund in diesem Leben, diesem Land und dieser Zeit geboren und können hier in unserem alltäglichen Umfeld das Göttliche erkennen, wenn wir die Augen des Herzens öffnen.

Bleiben wir stets geerdet und verbunden mit unserer Heimat, mit der Natur um uns herum und lassen gleichzeitig die Möglichkeit magischer Momente zu, so wird das Netz, das alle Seelen miteinander verbindet zu einem wahren Erleben statt einer bloßen Metapher. So lernen wir die Zeichen im Außen zu lesen und unserem Weg zu folgen – in der inneren wie der äußeren Welt. Die starke Anziehung des Schamanentums und die Kraft dieser Arbeit geht von einer großen Authentizität und dem wahrhaft gelebten Weltbild aus, welches den Alltag erfüllt.

Jennie Appel arbeitet seit 2006 in eigener Praxis mit schamanischen Techniken, Bewusstseinstraining und Coaching. Sie hat u.a. bei der Foundation for Shamanic Studies, Dr. Alberto Villoldo und Martin Brune gelernt und bietet Einzelsitzungen, Zeremonien und Seminare an (demnächst: „Schamanisch Reisen - Basiswissen“). Sie arbeitet in Bielefeld, in der Nähe von Frankfurt am Main und überregional im Rahmen von Fernsitzungen.

Ihr  Buch-CD-Set „Ahnenreise“ (gemeinsam mit Dirk Grosser) erscheint  im September 2012.

Mehr Infos unter www.jennie-appel.de / www.ahnenreise.net

(Artikel erschienen in der Zeitschrift "Das Wesentliche Nr. 28" im Juli 2012)